24 Schwarzdrossel

Einleitung

Hercule Poirot saß mit seinem Freund, Henry Bonnington, in dem Restaurant “Gallant Endeavour”, das sich im Künstlerviertel Londons, auf der King´s Road, befindet.
Mr. Bonnington verkehrte gern im “Gallant Endeavour”. Er fand die herrschende Atmosphäre gemütlich, ihm schmeckte das Essen, das einfach und trotz des französischen Namens des Restaurants typisch englisch war und, wie er sagte, keine Zusammenstellung verunglückter Gerichte darstellte. Es machte ihm Freude, seinen Freunden den Platz zu zeigen, auf dem Augustus John immer gesessen hatte, und Sie auf die berühmten Künstlernamen aufmerksam zu machen, die im Gästebuch standen. Mr. Bonnington war zwar der unkünstlerischste Mensche, den man sich vorstellen kann, aber er bewundert wohl wollend die künstlerischen Leistungen anderer.

Die sympatische Kellnerin Molly begrüßte Mr. Bonnington wie einen alten Freund. Ihr Stolz war, genau zu wissen, was ihren Gästen schmeckte und was nicht.
„Guten Abend“, sagte sie, als die beiden Herren an einem Ecktisch Platz nahmen. „Sie haben heute Glück, es gibt Truthahn mit Kastanienfüllung. Das ist doch Ihr Lieblingsgericht? Außerdem haben wir einen wirklich sehr guten Stilton-Wein da. Möchten Sie vorher lieber Suppe oder Fisch?“
Mr. Bonnington überlegte. Warnend sagte er zu Poirot, der die Karte studierte: „Für dich gibt es diesmal keine französischen Delikatessen sondern ein schmackhaftes, kräftiges englisches Gericht.
„Mein Freund“, winkte Hercule Poirot ab, „ich wünsche mir gar nichts anderes. Ich überlasse dir völlig die Entscheidung.“
Mr. Bonnington widmete sich mit großer Aufmerksamkeit der Speisekarte.
Nachdem er dieses wichtige Problem und sogar auch die Weinfrage gelöst hatte, lehnte er sich aufatmend im Stuhl zurück und faltete seine Serviette auseinander. Molly eilte mit der Bestellung davon.
„Diese Bedienung ist ausgezeichnet“, lobte er. „Früher muss sie eine Schönheit gewesen sein. Sie wurde häufig von Malern porträtiert. Außerdem versteht sie auch etwas von guter Küche, was noch viel wichtiger ist, denn im Allgemeinen ist in dieser Hinsicht auf die Frauen kein Verlass. So viele von ihnen merken nicht einmal, was sie essen, wenn sie mit einem Mann ausgehen, der ihnen gefällt.“
Hercule Poirot schüttelte den Kopf.
„C´est terrible.“
„Gott sei Dank sind wir Männer da anders!“, erklärte Mr. Bonnington selbstzufrieden.
„Stimmt das immer?“ Hercule Poirot lächelte verschmitzt.
„Nun ja, es mag vielleicht nicht für die jungen Männer zutreffen“, gab Mr. Bonnington zu. „Diese jungen Burschen von heute sind alle gleich – sie haben keinen Mut und keine Ausdauer. Ich kann mit der Jugend nichts anfangen, und“, fügte er völlig objektiv hinzu, „sie können auch mit mir nichts anfangen. Vielleicht haben sie Recht! Aber wenn man einigen von diesen Burschen Glauben Schenkt, dürfte niemand mehr das Recht haben, älter als sechzig zu werden. So wie sie sich aufführen, muss man sich nur wundern, dass nicht mehr von ihnen dabei mithelfen, ihre älteren Verwandten aus der Welt zu schaffen.“
„Möglicherweise tun sie es“
, sagte Hercule Poirot.
„Nette Ansichten hast du da, Poirot, ich muss schon sagen. Diese Detektivarbeit hat dich wohl aller deiner Ideale beraubt.“
Hercule Poirot lächelte.
„Tout de même“, sagte er. „Es wäre einmal interessant, eine Statistik aufzustellen, die zeigt, wer älter als sechzig geworden ist und nicht eines natürlichen Todes starb. Dir würden dann garantiert einige merkwürdige Gedanken kommen.“
„Du hast angefangen, nach dem Verbrechen zu suchen, anstatt darauf zu warten, dass es zu dir kommt. Das ist neu.“
„Entschuldige“
, sagte Poirot. „Ich fachsimple wieder, wie du es nennst. Erzähle mir lieber von dir, mein Freund. Wie steht es so in der Welt?"
„Ach, alles geht drunter und drüber. Das gilt heute für die ganze Welt. Alles ist viel zu verworren. Es werden viel zu viele schöne Worte gemacht. Damit will man das Durcheinander verdecken. Diese schönen Worte sind wie eine köstliche Sauce, sie über ein Stück Fisch gegossen wird, damit man nicht merkt, dass der Fisch darunter schon riecht. Gib mir ein anständiges Seezungenfilet und keine schlechte Sauce darüber.“

In diesem Moment wurde ihm das Seezungenfilet serviert, und er schnalzte anerkennend mit der Zunge.
„Sie wissen ganz genau, was mir schmeckt, Mädchen“, sagte er.
„Nun ja, Sie kommen doch ziemlich regelmäßig hierher, nicht wahr? Wie sollte ich da nicht wissen, was Sie gern essen!“
„Essen denn die Gäste immer das Gleiche? Wollen sie nicht einmal Abwechslung?“
„Nicht die Männer. Die Frauen lieben wohl die Abwechslung. Aber die Männer wollen immer dasselbe.“

„Was habe ich gesagt?“, murmelte Bonnington.
„Frauen haben keine Ahnung, was das Essen angeht!“
Er sah sich im Restaurant um. „Die Welt ist doch komisch. Siehst du dort in der Ecke diese merkwürdige Gestalt mit dem Bart? Molly könnte dir erzählen, dass er an jedem Dienstag- und Donnerstagabend hier ist. Seit fast zehn Jahren kommt er regelmäßig – er ist hier so eine Art Wahrzeichen. Aber niemand weiß, wie er heißt, wo er lebt und was er tut. Es ist doch seltsam, wenn man darüber nachdenkt.“


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