24 Schwarzdrosseln

1. Verhör mit Dr. MacAndrews (Beratungsarzt des Toden)

Ein paar Stunden später saß Hercule Poirot in der Praxis von Dr. MacAndrews ganz in der Nähe der King´s Road. MacAndrews war Schotte, er war groß, rothaarig und hatte ein intelligentes Gesicht.
Gascoigne?“, sagte er. „Ja, das stimmt. Er war ein exzentrischer alter Kauz. Er lebte allein in einem dieser baufälligen alten Häuser, die jetzt abgerissen werden, weil man dort einen modernen Häuserblock errichten will. Er war nie mein Patient gewesen, aber ich kümmerte mich um ihn, ich kannte ihn. Dem Milchmann war es als Erstes aufgefallen, denn die Milchflaschen sammelten sich draußen an. Schließlich benachrichtigten die Nachbarn die Polizei. Polizisten brachen die Tür auf und fanden ihn. Er war die Treppe hinuntergefallen und hatte sich den Hals gebrochen. Er trug einen alten Morgenmantel, dessen Gürtel zerrissen war. Wahrscheinlich hatte ihn das zum Stolpern gebracht.“
„Ich verstehe“
, sagte Hercule Poirot. „Es war ganz einfach ein Unfall.“
„Ja.“
„Hatte er Verwandte?“
„Einen Neffen. Er besuchte ihn immer einmal im Monat. Lorrimer heißt er,
George Lorrimer. Er ist auch Arzt. Er wohnt in Wimbledon.“
„War er über den Tod des alten Mannes bestürzt?“
„Ich weiß nicht, ob ich es so nennen kann. Ich meine, er fühlte sich zu dem alten Mann hingezogen, aber eigentlich kannte er ihn nicht sehr gut.“
„Wie lange war Mr. Gascoigne schon tot, als man ihn fand?“
„Ach“
, sagte Dr. MacAndrews, „jetzt kommen wir auf das Dienstliche zu sprechen. Er war seit nicht weniger als achtunddreißig Stunden und nicht länger als zweiundsiebzig Stunden tot. Man fand ihm am Sechsten, frühmorgens. Wir wissen noch mehr. Ein Brief steckte in der Tasche seines Morgenmantels. Der war am Dritten geschrieben und nachmittags in Wimbledon aufgegeben worden; er müsste etwa gegen einundzwanzig Uhr ins Haus gebracht worden sein. Das bedeutet, dass er am Dritten, abends, nach einundzwanzig Uhr zwanzig gestorben ist. Der Mageninhalt und due Verdauungsprozesse stimmten mit dieser Zeit überein. Er hatte zwei Stunden, bevor er starb, gegessen. Ich untersuchte ihn am Sechsten, frühmorgens, und sein Zustand entsprach ziemlich genau einem Todeseintritt am Dritten, gegen zweiundzwanzig Uhr, also sechzig Stunden vorher.“
„Das passt scheinbar alles großartig! Sagen Sie, wann sah man ihn zuletzt lebend?“
„Er wurde in der King´s Road am gleichen Abend gesehen, Donnerstag, dem Dritten, und er aß um neunzehn Uhr dreißig im „Gallant Endeavour“. Er schient dort immer donnerstags gegessen zu haben. Er war Künstler, müssen Sie wissen, wenn auch kein sehr bedeutender.“
„Hatte er außer diesem Neffen keine andere Verwandschaft?“
„Doch, einen Zwillingsbruder. Die ganze Geschichte ist ziemlich verworren. Seit Jahren hatten sie sich nicht mehr gesehen. Sein Bruder,
Anthony Gascoigne, hatte wohl eine sehr reiche Frau geheiratet und die Kunst an den Nagel gehängt. Deswegen hatten sich die Brüder zerstritten. Und seit dieser zeit haben sie sich meiner Meinung nach nicht mehr gesehen. Aber seltsamerweise starben sie beide am gleichen Tag. Der ältere Zwillingsbruder starb am Dritten, so gegen drei Uhr nachmittags. Ich habe schon einmal von einem Fall gehört, dass Zwillinge am gleichen Tag starben, obwohl sie durch Länder voneinander getrennt waren. Wahrscheinlich war es nur ein Zufall, aber das hier ist wieder so ein Fall.“
„Lebt die Frau des Zwillingsbruders noch?“
„Nein, sie starb vor Jahren.“
„Wo wohnte Anthony Gascoigne?“
„Er hatte ein Haus auf dem Kingston Hill. Nach dem, was Dr. Lorrimer mir erzählte, glaube ich, dass er sehr zurückgezogen gelebt hat.“

Hercule Poirot nickte nachdenklich.
Der Schotte sah ihn aufmerksam an.
„Was beschäftigt Sie eigentlich so, Monsieur Poirot?“, fragte er unvermittelt. „Ich habe Ihre Fragen beantwortet. Das musste ich ja auch wohl, nachdem sei mit Ihren Ausweis zeigten. Aber was ist denn nun los? Haben Sie etwa einen Verdacht?“
Poirot sagte langsam:
„Sie sagten, es sei ganz einfach ein Sturz gewesen. Was ich dagegen denke, ist genauso einfach – es handelt sich ganz einfach um einen Stoß.“
Mr. MacAndrews sah ihn erschrocken an.
„Mit anderem Worte: Mord! Haben Sie irgendwelche Gründe für diese Annahme?“
„Nein“
, antwortete Poirot. „Ich vermute es nur.“
„Aber – selbst dafür müssen Sie doch einen Grund haben“
, beharrte der andere.
Poirot antwortete nicht darauf, und der andere fuhr fort:
„Wenn Sie seinen Neffen Lorrimer verdächtigten, so kann ich Ihnen ganz offen und ehrlich sagen, dass Sie auf dem Holzweg sind. Lorrimer spielte Bridge in Wimbledon von zwanzig Uhr dreißig bis Mitternacht. Das stellte sich bei den Untersuchungen heraus.“
„Wahrscheinlich ist das wirklich wahr“
, murmelte Poirot, „die Polizei arbeitet sorgfältig.“
„Wissen Sie vielleicht etwas, was gegen ihn spricht?“
, fragte der Arzt.
„Nein, durchaus nicht. Dieser Fall ist das typische Verbrechen menschlicher Bestien. Das ist wichtig. Und der Tod von Mr. Gascoigne passt nicht in das Konzept. Es stimmt alles nicht, wissen Sie.“
„Ich verstehe nicht, wirklich nicht.“

Poirot murmelte:
„Das Problem ist, dass schlechter Fisch unter zu viel Sauce versteckt wurde.“
„Aber verehrtester Monsieur, wie soll ich das verstehen?“
Hercule Poirot lächelte, dann sagte er: „Sei werden mich wohl bald in eine Irrenanstalt bringen lassen, Monsieur le Docteur, aber ich bin doch kein Verrückter, sondern nur jemand, der geordnete Verhältnisse und methodische Arbeiten liebt. Es quält mich, wenn ich mit einer Tatsache konfrontiert werde, die keine ist. Verzeihen Sie mir, dass ich Sie so lange aufgehalten habe.“
Er erhob sich, und auch der Arzt stand auf.
„Ich muss Ihnen ganz ehrlich meine Meinung sagen“, fuhr MacAndrews fort. „Der Tod von Henry Gascoigne erregt in mir nicht den leisesten Verdacht. Nach meiner Ansicht fiel er die Treppe hinunter. Es hängt alles – nun ja - in der Luft. Genaues weiß man nicht.“
Hercules Poirot seufzte.
„Ja“, sagte er. „Es ist die Arbeit eines Fachmannes. Irgendjemand hat gute Arbeit geleistet.“
„Sie glauben immer noch ...“

Der kleine Mann spreizte die Hände.
„Ich bin hartnäckig, nicht wahr? Ich habe eine Vermutung, und sonst habe ich nichts, was diese bloße Vermutung bestätigen könnte. Hatte Henry Gascoigne übrigens ein Gebiss?“
„Nein, seine Zähne waren tadellos in Ordnung. In seinem Alter übrigens bemerkenswert.“
„Ja, sie sind mir sogar als besonders weiß aufgefallen. Im Allgemeinen werden Zähne im Alter leicht etwas gelblich. Aber seine waren weiß und gesund.“
„Waren sie nicht verfärbt?“
„Nein. Ich glaube, er rauchte nicht. Das war es doch, was Sie wissen wollten?“
„So genau wollte ich es nicht wissen. Es war nur ein kühner Vorstoß, ein Versuch, der wahrscheinlich zu nichts führen wird. Auf Wiedersehen, Doktor MacAndrews, ich danke Ihnen für Ihre Mühe.“
Er gab dem Arzt die Hand und ging.
„Und nun auf zu dem Versuch“, murmelte er zu sich selbst.


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