Ein paar Stunden später saß Hercule
Poirot in der Praxis von Dr.
MacAndrews ganz in der Nähe der King´s
Road. MacAndrews war Schotte, er war groß, rothaarig und hatte ein
intelligentes Gesicht.
„Gascoigne?“,
sagte er. „Ja, das stimmt. Er war ein
exzentrischer alter Kauz. Er lebte allein in einem dieser baufälligen
alten Häuser, die jetzt abgerissen werden, weil man dort einen modernen
Häuserblock errichten will. Er war nie mein Patient gewesen, aber ich
kümmerte mich um ihn, ich kannte ihn. Dem Milchmann war es als Erstes
aufgefallen, denn die Milchflaschen sammelten sich draußen an. Schließlich
benachrichtigten die Nachbarn die Polizei. Polizisten brachen die Tür
auf und fanden ihn. Er war die Treppe hinuntergefallen und hatte sich den
Hals gebrochen. Er trug einen alten Morgenmantel, dessen Gürtel zerrissen
war. Wahrscheinlich hatte ihn das zum Stolpern gebracht.“
„Ich verstehe“, sagte Hercule Poirot.
„Es war ganz einfach ein Unfall.“
„Ja.“
„Hatte er Verwandte?“
„Einen Neffen. Er besuchte ihn immer einmal im Monat. Lorrimer heißt
er,
George Lorrimer. Er ist auch Arzt. Er wohnt
in Wimbledon.“
„War er über den Tod des alten Mannes bestürzt?“
„Ich weiß nicht, ob ich es so nennen kann. Ich meine, er fühlte
sich zu dem alten Mann hingezogen, aber eigentlich kannte er ihn nicht sehr
gut.“
„Wie lange war Mr. Gascoigne schon tot, als man ihn fand?“
„Ach“, sagte Dr. MacAndrews,
„jetzt kommen wir auf das Dienstliche zu sprechen.
Er war seit nicht weniger als achtunddreißig Stunden und nicht länger
als zweiundsiebzig Stunden tot. Man fand ihm am Sechsten, frühmorgens.
Wir wissen noch mehr. Ein Brief steckte in der Tasche seines Morgenmantels.
Der war am Dritten geschrieben und nachmittags in Wimbledon aufgegeben worden;
er müsste etwa gegen einundzwanzig Uhr ins Haus gebracht worden sein.
Das bedeutet, dass er am Dritten, abends, nach einundzwanzig Uhr zwanzig
gestorben ist. Der Mageninhalt und due Verdauungsprozesse stimmten mit dieser
Zeit überein. Er hatte zwei Stunden, bevor er starb, gegessen. Ich
untersuchte ihn am Sechsten, frühmorgens, und sein Zustand entsprach
ziemlich genau einem Todeseintritt am Dritten, gegen zweiundzwanzig Uhr,
also sechzig Stunden vorher.“
„Das passt scheinbar alles großartig! Sagen Sie, wann sah man
ihn zuletzt lebend?“
„Er wurde in der King´s Road am gleichen Abend gesehen, Donnerstag,
dem Dritten, und er aß um neunzehn Uhr dreißig im „Gallant
Endeavour“. Er schient dort immer donnerstags gegessen zu haben. Er
war Künstler, müssen Sie wissen, wenn auch kein sehr bedeutender.“
„Hatte er außer diesem Neffen keine andere Verwandschaft?“
„Doch, einen Zwillingsbruder. Die ganze Geschichte ist ziemlich verworren.
Seit Jahren hatten sie sich nicht mehr gesehen. Sein Bruder, Anthony
Gascoigne, hatte wohl eine sehr reiche Frau
geheiratet und die Kunst an den Nagel gehängt. Deswegen hatten sich
die Brüder zerstritten. Und seit dieser zeit haben sie sich meiner
Meinung nach nicht mehr gesehen. Aber seltsamerweise starben sie beide am
gleichen Tag. Der ältere Zwillingsbruder starb am Dritten, so gegen
drei Uhr nachmittags. Ich habe schon einmal von einem Fall gehört,
dass Zwillinge am gleichen Tag starben, obwohl sie durch Länder voneinander
getrennt waren. Wahrscheinlich war es nur ein Zufall, aber das hier ist
wieder so ein Fall.“
„Lebt die Frau des Zwillingsbruders noch?“
„Nein, sie starb vor Jahren.“
„Wo wohnte Anthony Gascoigne?“
„Er hatte ein Haus auf dem Kingston Hill. Nach dem, was Dr. Lorrimer
mir erzählte, glaube ich, dass er sehr zurückgezogen gelebt hat.“
Hercule Poirot nickte nachdenklich.
Der Schotte sah ihn aufmerksam an.
„Was beschäftigt Sie eigentlich so,
Monsieur Poirot?“, fragte er unvermittelt.
„Ich habe Ihre Fragen beantwortet. Das musste ich ja auch wohl, nachdem
sei mit Ihren Ausweis zeigten. Aber was ist denn nun los? Haben Sie etwa
einen Verdacht?“
Poirot sagte langsam: „Sie sagten, es
sei ganz einfach ein Sturz gewesen. Was ich dagegen denke, ist genauso einfach
– es handelt sich ganz einfach um einen Stoß.“
Mr. MacAndrews sah ihn erschrocken an. „Mit
anderem Worte: Mord! Haben Sie irgendwelche Gründe für diese Annahme?“
„Nein“, antwortete Poirot. „Ich
vermute es nur.“
„Aber – selbst dafür müssen Sie doch einen Grund haben“,
beharrte der andere.
Poirot antwortete nicht darauf, und der andere fuhr fort: „Wenn
Sie seinen Neffen Lorrimer verdächtigten, so kann ich Ihnen ganz offen
und ehrlich sagen, dass Sie auf dem Holzweg sind. Lorrimer spielte Bridge
in Wimbledon von zwanzig Uhr dreißig bis Mitternacht. Das stellte
sich bei den Untersuchungen heraus.“
„Wahrscheinlich ist das wirklich wahr“,
murmelte Poirot, „die Polizei arbeitet
sorgfältig.“
„Wissen Sie vielleicht etwas, was gegen ihn spricht?“,
fragte der Arzt.
„Nein, durchaus nicht. Dieser Fall ist
das typische Verbrechen menschlicher Bestien. Das ist wichtig. Und der Tod
von Mr. Gascoigne passt nicht in das Konzept. Es stimmt alles nicht, wissen
Sie.“
„Ich verstehe nicht, wirklich nicht.“
Poirot murmelte: „Das Problem ist, dass
schlechter Fisch unter zu viel Sauce versteckt wurde.“
„Aber verehrtester Monsieur, wie soll ich das verstehen?“ Hercule
Poirot lächelte, dann sagte er: „Sei
werden mich wohl bald in eine Irrenanstalt bringen lassen, Monsieur le Docteur,
aber ich bin doch kein Verrückter, sondern nur jemand, der geordnete
Verhältnisse und methodische Arbeiten liebt. Es quält mich, wenn
ich mit einer Tatsache konfrontiert werde, die keine ist. Verzeihen Sie
mir, dass ich Sie so lange aufgehalten habe.“
Er erhob sich, und auch der Arzt stand auf.
„Ich muss Ihnen ganz ehrlich meine Meinung
sagen“, fuhr MacAndrews fort. „Der
Tod von Henry Gascoigne erregt in mir nicht den leisesten Verdacht. Nach
meiner Ansicht fiel er die Treppe hinunter. Es hängt alles –
nun ja - in der Luft. Genaues weiß man nicht.“
Hercules Poirot seufzte.
„Ja“,
sagte er. „Es ist die Arbeit eines Fachmannes.
Irgendjemand hat gute Arbeit geleistet.“
„Sie glauben immer noch ...“
Der kleine Mann spreizte die Hände. „Ich
bin hartnäckig, nicht wahr? Ich habe eine Vermutung, und sonst habe
ich nichts, was diese bloße Vermutung bestätigen könnte.
Hatte Henry Gascoigne übrigens ein Gebiss?“
„Nein, seine Zähne waren tadellos in Ordnung. In seinem Alter
übrigens bemerkenswert.“
„Ja, sie sind mir sogar als besonders weiß aufgefallen. Im Allgemeinen
werden Zähne im Alter leicht etwas gelblich. Aber seine waren weiß
und gesund.“
„Waren sie nicht verfärbt?“
„Nein. Ich glaube, er rauchte nicht. Das war es doch, was Sie wissen
wollten?“
„So genau wollte ich es nicht wissen. Es war nur ein kühner Vorstoß,
ein Versuch, der wahrscheinlich zu nichts führen wird. Auf Wiedersehen,
Doktor MacAndrews, ich danke Ihnen für Ihre Mühe.“
Er gab dem Arzt die Hand und ging.
„Und nun auf zu dem Versuch“,
murmelte er zu sich selbst.
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