Einleitung
Hercule
Poirot saß mit seinem Freund,
Henry Bonnington, in dem Restaurant “Gallant
Endeavour”, das sich im Künstlerviertel Londons, auf der King´s
Road, befindet.
Mr. Bonnington verkehrte gern im “Gallant Endeavour”. Er fand
die herrschende Atmosphäre gemütlich, ihm schmeckte das Essen, das
einfach und trotz des französischen Namens des Restaurants typisch englisch
war und, wie er sagte, keine Zusammenstellung verunglückter Gerichte
darstellte. Es machte ihm Freude, seinen Freunden den Platz zu zeigen, auf
dem Augustus John immer gesessen hatte, und Sie auf die berühmten Künstlernamen
aufmerksam zu machen, die im Gästebuch standen. Mr. Bonnington war zwar
der unkünstlerischste Mensche, den man sich vorstellen kann, aber er
bewundert wohl wollend die künstlerischen Leistungen anderer.
Die sympatische Kellnerin
Molly begrüßte Mr. Bonnington wie einen
alten Freund. Ihr Stolz war, genau zu wissen, was ihren Gästen schmeckte
und was nicht.
„Guten Abend“,
sagte sie, als die beiden Herren an einem Ecktisch Platz nahmen. „Sie
haben heute Glück, es gibt Truthahn mit Kastanienfüllung. Das ist
doch Ihr Lieblingsgericht? Außerdem haben wir einen wirklich sehr guten
Stilton-Wein da. Möchten Sie vorher lieber Suppe oder Fisch?“
Mr. Bonnington überlegte. Warnend sagte er zu Poirot,
der die Karte studierte: „Für dich
gibt es diesmal keine französischen Delikatessen sondern ein schmackhaftes,
kräftiges englisches Gericht.“
„Mein Freund“,
winkte Hercule Poirot ab, „ich
wünsche mir gar nichts anderes. Ich überlasse dir völlig die
Entscheidung.“
Mr. Bonnington widmete sich mit großer Aufmerksamkeit
der Speisekarte.
Nachdem er dieses wichtige Problem und sogar auch die Weinfrage gelöst
hatte, lehnte er sich aufatmend im Stuhl zurück und faltete seine Serviette
auseinander. Molly eilte mit der Bestellung davon.
„Diese Bedienung ist ausgezeichnet“,
lobte er. „Früher muss sie eine Schönheit
gewesen sein. Sie wurde häufig von Malern porträtiert. Außerdem
versteht sie auch etwas von guter Küche, was noch viel wichtiger ist,
denn im Allgemeinen ist in dieser Hinsicht auf die Frauen kein Verlass.
So viele von ihnen merken nicht einmal, was sie essen, wenn sie mit einem
Mann ausgehen, der ihnen gefällt.“
Hercule Poirot schüttelte den Kopf. „C´est
terrible.“
„Gott sei Dank sind wir Männer da
anders!“, erklärte Mr. Bonnington
selbstzufrieden.
„Stimmt das immer?“
Hercule Poirot lächelte verschmitzt.
„Nun ja, es mag vielleicht nicht für
die jungen Männer zutreffen“, gab Mr.
Bonnington zu. „Diese jungen Burschen von
heute sind alle gleich – sie haben keinen Mut und keine Ausdauer. Ich
kann mit der Jugend nichts anfangen, und“,
fügte er völlig objektiv hinzu, „sie
können auch mit mir nichts anfangen. Vielleicht haben sie Recht! Aber
wenn man einigen von diesen Burschen Glauben Schenkt, dürfte niemand
mehr das Recht haben, älter als sechzig zu werden. So wie sie sich aufführen,
muss man sich nur wundern, dass nicht mehr von ihnen dabei mithelfen, ihre
älteren Verwandten aus der Welt zu schaffen.“
„Möglicherweise tun sie es“,
sagte Hercule Poirot.
„Nette Ansichten hast du da, Poirot, ich
muss schon sagen. Diese Detektivarbeit hat dich wohl aller deiner Ideale
beraubt.“
Hercule Poirot lächelte. „Tout de même“,
sagte er. „Es wäre einmal interessant,
eine Statistik aufzustellen, die zeigt, wer älter als sechzig geworden
ist und nicht eines natürlichen Todes starb. Dir würden dann garantiert
einige merkwürdige Gedanken kommen.“
„Du hast angefangen, nach dem Verbrechen zu suchen, anstatt darauf zu
warten, dass es zu dir kommt. Das ist neu.“
„Entschuldige“, sagte Poirot. „Ich
fachsimple wieder, wie du es nennst. Erzähle mir lieber von dir, mein
Freund. Wie steht es so in der Welt?"
„Ach, alles geht drunter und drüber. Das gilt heute für die
ganze Welt. Alles ist viel zu verworren. Es werden viel zu viele schöne
Worte gemacht. Damit will man das Durcheinander verdecken. Diese schönen
Worte sind wie eine köstliche Sauce, sie über ein Stück Fisch
gegossen wird, damit man nicht merkt, dass der Fisch darunter schon riecht.
Gib mir ein anständiges Seezungenfilet und keine schlechte Sauce darüber.“
In diesem Moment wurde ihm das Seezungenfilet serviert, und er schnalzte anerkennend
mit der Zunge. „Sie wissen ganz genau, was
mir schmeckt, Mädchen“, sagte er.
„Nun ja, Sie kommen doch ziemlich regelmäßig
hierher, nicht wahr? Wie sollte ich da nicht wissen, was Sie gern essen!“
„Essen denn die Gäste immer das Gleiche? Wollen sie nicht einmal
Abwechslung?“
„Nicht die Männer. Die Frauen lieben wohl die Abwechslung. Aber
die Männer wollen immer dasselbe.“
„Was habe ich gesagt?“, murmelte Bonnington. „Frauen
haben keine Ahnung, was das Essen angeht!“
Er sah sich im Restaurant um. „Die Welt ist doch komisch. Siehst du
dort in der Ecke diese merkwürdige Gestalt mit dem Bart? Molly könnte
dir erzählen, dass er an jedem Dienstag- und Donnerstagabend hier ist.
Seit fast zehn Jahren kommt er regelmäßig – er ist hier so
eine Art Wahrzeichen. Aber niemand weiß, wie er heißt, wo er lebt
und was er tut. Es ist doch seltsam, wenn man darüber nachdenkt.“
Der Fall | Wer
ist der Unbekannte? | Der
Brief